2. September 2020
Billstedt

Auf den Spuren eines Kinderarztes in Hamburg

Buchautor sucht Zeitzeugen des Wirkens von Dr. Heinz Graul am Rothenburgsorter Krankenhaus im Dritten Reich

Elisabeth und Heinz Graul im Jahr ihrer Heirat 1939 Foto: Archiv Babel

ROTHENBURGSORT Hamburger Mediziner haben sich im Dritten Reich versündigt, andere blieben standhaft. Einige haben sich am „Euthanasie“-Programm der Nazis im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort (KKR) beteiligt.

Mit einer Überdosis des Schlafmittels Luminal töteten dort die Assistenzärztinnen von 1940 bis 1945 vermutlich mehr als 125 behinderte Kinder. Die Ermittler wiesen elf Frauen nach, am Kindermord beteiligt gewesen zu sein. Nur vier der 15 Assistenzärztinnen, die bislang bekannt waren, machten nicht mit. Deren Lebensgeschichten erzählt der Journalist Andreas Babel in seinem Buch „Kindermord im Krankenhaus“.

Im Mai fand Babel in den mittlerweile vom Hamburger Staatsarchiv digitalisierten Ermittlungsakten die Namen weiterer Mediziner, die während der NS-Zeit im KKR gearbeitet haben – die
meisten davon während ihrer Ausbildung. Nun möchte Babel deren Lebensgeschichten für die dritte Auflage seines 2015 erstmals erschienenen Buches nachzeichnen. „Es scheint so zu sein, dass es weit mehr Ärzte gab als bislang angenommen, die sich nicht an den Morden beteiligt haben“, sagt Babel.

Der wohl letzte Assistenzarzt am KKR war der 1909 in Leipzig geborene Heinz Graul. Er war bis zum 10. März 1941 am KKR beschäftigt, ehe er eingezogen wurde. Graul war der Sohn von Professor Dr. Richard Graul (1862-1944), Direktor des Kunstgewerbemuseums Leipzig von 1896 bis 1929 (heute Grassi Museum für Angewandte Kunst), und Enkelsohn des Leipziger Kinderchirurgen Robert Hermann Tillmanns (1844–1927).

Aus russischer Kriegsgefangenschaft kam Graul Weihnachten 1949 zurück nach Hamburg. Er ließ sich in Billstedt als Kinderarzt nieder, wo er im Laufe der Jahre meist an der Billstedter Hauptstraße (Hausnummern 90, 39, 33 und 35) bis 1978 praktizierte. 1939 hatte er seine Frau Elisabeth (1913–2006) geheiratet, die Krankengymnastin war. Das Ehepaar lebte An der Glinder Au, ganz in der Nähe des Steinbeker Teichs.

Graul, der 2001 starb, gehörte nicht zu den Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren, das 1945 bis 1949 gegen die Mediziner des KKR geführt wurde. Er ist aber mit der sogenannten Euthanasie in Berührung gekommen, sollte daran mitwirken, was ihm erhebliche Sorgen bereitet haben soll, wie Mitärztinnen nach dem Krieg aussagten.

Mit seinen vier Söhnen sprach er nicht über die Zeit am KKR, ob er sich mit seiner Ehefrau offen darüber austauschte, ist nicht bekannt. Babel würde gerne schildern, wie der Arzt sich in der Bundesrepublik eine neue Existenz aufbaute und wie er mit seinen kleinen Patienten umging. Wer erinnert sich an den Kinderarzt und kann Babel darüber berichten? Die Ergebnisse fließen dann unter Umständen in die Neuauflage seines Buches mit ein.

 

Das Kinderkrankenhaus auf einer Postkarte aus den 1940er-Jahren Foto: Archiv Babel

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