HAMBURG Das Singen in Chören scheint etwas aus der Zeit gefallen. Aktuell gehören rund 13.000 Vereinigungen dem Deutschen Chorverband an. Zehn Jahre zuvor waren es noch 22.000.
Die Hamburger Liedertafel, ältester Männerchor in der Hansestadt, wird am 19. April 200 Jahre alt – und schaut optimistisch in die Zukunft. Für immer in die Annalen geht der 5. Oktober 1841 ein: Die „Tafelsänger“ intonieren erstmals öffentlich das „Deutschlandlied“, unsere heutige Nationalhymne.
Das Telefon tönt. Permanent – und in Fortissimo. „Ich muss Ihnen ja nicht erzählen, dass gute Kräfte überall händeringend gesucht werden“, sagt Gerhard Pfeiffer. Der 61-Jährige ist in Hamburg-Wandsbek Inhaber einer Zeitarbeitsfirma. Nach dem stressigen Alltag lässt der gebürtige Schwabe aus Reutlingen den Abend am liebsten im Turmsaal der Hauptkirche St. Katharinen ausklingen – bei Chor-Proben. Doch so richtig „adagio“ ist es um Pfeiffers Freizeit gegenwärtig auch nicht bestellt, denn große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Die Hamburger Liedertafel von 1823, der älteste Männerchor der Hansestadt und nach der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der Hamburger Turnerschaft von 1816 die drittälteste noch bestehende Vereinigung an Alster und Elbe, feiert ihren 200. Geburtstag. Und da die „Liedertafel“ schon immer eine wichtige Stimme im gesellschaftlichen Leben spielte, lädt der Hamburger Senat am 19. April zu einem Empfang ins Rathaus ein. Das Jubiläumskonzert findet zwei Monate später, am 17. Juni, standesgemäß im Großen Saal der Elbphilharmonie statt. Und Gerhard Pfeiffer, 2. Tenor im Chor, steht als 1. Vorsitzender der „Tafelsänger“ qua Amt nicht nur anno 2023 oft ganz vorn.
Verjüngung
Zwei Jahrhunderte zu „überleben“, ohne in einer sich immer schneller drehenden Welt mit neuen Mode-Trends den Markenkern zu verändern, ist durchaus eine Leistung. Dabei hat es die „Liedertafel“ vor allem in der jüngsten Vergangenheit verstanden, die Weichen in die Zukunft zu stellen. „Unser Projekt ‚Join Generation‘ verfolgt das Ziel, die Tradition des Männerchors zu fördern und sich in diesem Zusammenhang ein Stück weit neu zu erfinden“, erklärt Gerhard Pfeiffer. 2019 gründeten zwei junge Hamburger die „Bengelsstimmen“ – und holten sich Rat bei den etwa 20 älteren Herren.
Am Ende des Gespräches stand eine Kooperation. Die inzwischen 60 „Bengels“ singen seitdem – als Chor im Chor – unter dem Dach der „Liedertafel“ und sorgen nicht nur für eine drastische Senkung des Durchschnittsalters um knapp 30 Jahre, sondern zuweilen auch für neue Töne. Um die Stimme kraft- und taktvoll zu erheben, sind keine Vor- bzw. Notenkenntnisse vonnöten, wie Gerhard Pfeiffer betont. „Einsteiger sollten indes ertragen können, dass es etwa ein halbes Jahr dauert, bis sie stabil mitsingen können“, sagt er lächelnd und blickt auf ein Plakat, das in seinem Büro hängt und sowohl für sein Tagesgeschäft als auch Hobby den Rahmen bildet. Darauf steht: „Motivation: Das Geheimnis des Könnens liegt im Wollen.“
Historische Momente
Wie kaum ein anderer Chor hat die Hamburger Liedertafel in Deutschland Geschichte geschrieben: Im März 1823 zelebrierten die Mitglieder der Hanseatischen Legion, die 1813/14 erfolgreich in den Kampf gegen Napoleon gezogen waren, ihr zehnjähriges Bestehen. Mit dem musikalischen Programm betrauten sie den Dirigenten Albert Methfessel, Komponist der Hamburg-Hymne „Hammonia“. Als er die Freiheitskämpfer begeistert „Teure Heimat …“ schmettern ließ, waren alle Anwesenden überzeugt: Die Hamburger Liedertafel muss ins Leben gerufen werden!
In der Folgezeit prägte der Chor das musikalische Leben der Stadt, unterstützte Senat und Bürgerschaft bei Großveranstaltungen oder Wohltätigkeitskonzerten. Dieses soziale Engagement, zum Beispiel mit Auftritten in Migranten- und Senioren-Zentren, gehört bis heute zur „DNA“ des Sängerbundes, der 1996 den Bürgerpreis erhielt und internationale Kontakte beispielsweise auch zu Chören in Marseille und Prag pflegt.
Unvergessen
Einen herben Verlust musste die Hamburger Liedertafel zu Beginn des Jubiläumsjahres verschmerzen: Der langjährige Chorleiter Gunter Wolf, der früher an Theatern in der DDR tätig war, verstarb nach schwerer Krankheit. Seine Nachfolge hat kurzfristig Tom Kessler übernommen. Der 31-jährige Bass-Bariton und studierte Kirchenmusiker ist als Solo- und Ensemble-Sänger gefragt – und begleitet die „Tafelsänger“ nun ins dritte Jahrhundert.